«Begreifen, was mich ergreift»

Die Werkstatt als Entstehungsort von Grossem, vielleicht Unsterblichem – wenn sich jemand darin auskennt, wo kreative Energien entfesselt wurden, dann ist es unser «Philosoph in Residenz», der deutsche Literaturwissenschafter und Theologe Karl-Josef Kuschel. Ein Leben lang widmete er seine Aufmerksamkeit den äusseren Bedingungen und den inneren Befindlichkeiten, wo und wie grosse Werke zustande kamen. In seinem Opus magnum «Magische Orte» (Patmos- Verlag, 2022) legt Kuschel eine literarische Topographie ihresgleichen vor: Sie führt mit Hölderlin, Ernst Bloch, Max Horkheimer und Kurt Marti durch Tübingen, macht für Lessing in Wolfenbüttel halt, erklärt uns, weshalb genau in Bauerbach Schillers «Räuber» entstehen konnten, wirft ein sehr ungewohntes, weil nicht verklärendes Licht auf Annette von Droste-Hülshoff beziehungsweise das Städtchen Meersburg auf der anderen Seite des Bodensees, lässt Rilkes Duino vor unserem geistigen Auge erstehen – und so weiter und so fort, bis nach Petropolis in Brasilien (Stefan Zweig) und zurück nach Schussenried zu Martin Walser. Allesamt Werkstätten, ohne die die Menschheit ärmer wäre.

Karl-Josef Kuschel gestaltete den Nachmittag in lockerem Dialog mit dem Stiftungspräsidenten Konrad Hummler und dem Publikum zum Thema «Werkstätten der Menschheit».

Vortrag Prof. Dr. Karl-Josef Kuschel, Universität Tübingen

Begreifen, was mich ergreift
Erfahrungen mit der Musik
von Johann Sebastian Bach

Ich bin kein Experte in Sachen Bach’scher Musik, ein Musikwissenschaftler schon gar nicht. Wohl aber war und bin ich ein leidenschaftlicher Hörer gerade auch der Bach’schen Orgelmusik. Man hat mich gebeten, aufzuschreiben, was ich höre und erlebe, wenn diese Musik erklingt. Gedanken zu Bachs Musik, Erfahrungen beim Hören. Darum geht es. Um nicht mehr und um nicht um weniger. Begreifen, was mich beim Hören ergreift. Ich schreibe meine Erfahrungen auf, weil ich mir dadurch selber Rechenschaft gebe und damit vielleicht auch andere Menschen ermutige, ihre eigenen Erfahrungen zur Sprache zu bringen.

I.

Wie oft ist es mir so ergangen. Ich sitze still irgendwo in einer Kirche und lasse mich von Orgelmusik umfliessen, oft genug auch von der Johann Sebastian Bachs. Toccaten und Fugen in allen Varianten. Ich schliesse die Augen und lasse mich umspülen vom Fluss der Töne und Klänge. Lasse mich mitnehmen. Klangräume bauen sich auf. Mal tiefe dunkle Bässe, mal silbrig helle Obertöne. Sie scheinen aus verborgenen Tiefen zu kommen und sich in kosmische Dimensionen zu steigern. Rhythmen, Akkorde, Sequenzen, mal gewaltig aufbrausend, mal leise zurückgenommen. Kleinste Strukturen und gewaltige Dimensionen im Wechselspiel. Das ganze Stimmungsspektrum? Es scheint wie ausgemessen mit seinen Tiefen und seinen Höhen. Ich bin jedes Mal wie gebannt. Da können Klänge wie aus einem Urgrund heraus sich aufwühlen, um dann wieder in rasantem Wechsel als spitz-helle Melodien wie in unendliche Fernen zu verschweben. Bach, der Ausmesser der Klangwelten, für den es nichts zu geben scheint, was sich nicht in Tönen ausdrücken lässt: das Dunkel-Schwarze und das Durchsichtig-Helle, das Kraftvoll-Mächtige und das Zerbrechlich-Zarte, das Drängend-Rasende und das Zugenommen-Langsame. «Toccata und Fuge in d-Moll» zum Beispiel: Töne zuerst wie zuckende Blitze und anschliessend wie Wasserstürze. Genesis und Apokalypse, Keime und Kosmos, immer alles verknüpft. Immer ist alles im selben Stück zu hören in dieser einzigartigen Welt aus Klang.

Wie gerne würde ich sprachlich genauer ausdrücken können, was ich höre. «Toccata und Fuge in F-Dur» zum Beispiel. Doch wie ohnmächtig ist die Wort-Kunst gegenüber der Ton-Kunst, die aber zugleich auf die Wortkunst angewiesen ist, will man verstehen, was man hört, und anderen mitteilen, was man erfährt. Flüchtig, wie die Musik nun einmal ist im Moment des Hörens. Aber keine Komposition, keine Tonfolge ist in Sprache übersetzbar. Selbst die Grössten unter den Wortkünstlern sind daran gescheitert. Sicher, was Tolstoi zum Violinspiel in Beethovens «Kreutzer-Sonate» (op. 47) in seiner gleichnamigen Erzählung zu sagen hat, ist tief und mitreissend zugleich. Und die Ausführungen, die Thomas Mann im «Doktor Faustus» dem Musiklehrer Wendell Kretzschmar über Beethovens c-Moll-Klaviersonate op. 111 in den Mund legt? Sie sind brillant. Sie drehen sich unter anderem um die Frage: Warum hat der späte Beethoven für diese Sonate keinen dritten Satz geschrieben? Der «Held» des Romans, der spätere Komponist Adrian Leverkühn, lernt damit schon früh, dass es in der Geschichte der Musik Momente der Erschöpfung geben kann, des Zu-Ende-Kommens bestimmter «ausgereizter» Formen, und dass man – so die Pointe des «Doktor Faustus» – für neue, geniale Kunstwerke bereit sein muss, seine Seele wie weiland Goethes Faust dem Teufel zu verkaufen.

Aber was ist die tiefste und brillanteste Prosa gegen das Hörerlebnis der Musik selber? Sprache in ihrer Ohnmacht, Grenzen der Sprachlichkeit. Wie stark ist doch die Sprache der Töne gegenüber der Sprache der Worte. Wer hätte je beschreiben können, was man an Nuancen hört, wenn Schuberts «Impromptus» erklingen oder die «Nocturnes» von Chopin? Wie armselig ist die Wort-Kunst gegenüber der Tonkunst, die aber zugleich auf die Wortkunst angewiesen bleibt, ich sagte es, will man verstehen, was man hört und anderen mitteilen, was man erfährt.

II.

Es sind kostbare Momente, wenn ich Bach’sche Orgelmusik höre. Sie lassen mich für Minuten vergessen, woher ich komme, wohin ich gehe, was mich gerade beschäftigt, was mich bedrückt oder belastet. Unterbrechungserfahrungen werden möglich, seltene Momente der Aufhebung von Erdenschwere. Alles im Raum scheint zu schweben, scheint leicht, scheint durchsichtig geworden. Mein Herz: wie geöffnet für etwas Grosses, Mitreissendes und zugleich für stille Einkehr, für Nachdenklichkeit und Dankbarkeit, und sei es nur die Dankbarkeit für gesunde Ohren, die mich diese Tonlandschaften wahrnehmen lassen, für diese Momente unerwarteter Selbstvergessenheit.

Ich habe nicht immer so gehört. Vieles früher war nur flüchtiger Konsum. Oberflächlich verspieltes Hinhören, mehr Hintergrund, mehr Ablenkung und Entspannung. Oder das Kulturpathos: Kein Ostern ohne «Matthäuspassion», ohne «O Haupt voll Blut und Wunden». Kein Weihnachten ohne das entsprechende Bach-Werk zum Fest, ohne «Jauchzet, frohlocket». Auch ich habe mit Bach ungezählte Male «an der Krippe» gestanden und war gerührt vom entsprechenden Choral: «Ich steh an deiner Krippen hier, o Jesulein, mein Leben». Trotz «Jesulein»! Die Sprache vieler Texte der Oratorien ist mir fremd, diese barocke Christus-Intimität, diese Mystik, die sich mit dem Leiden und den Wunden des Gekreuzigten identifiziert. Fremd, sehr fremd. Der Abstand von dreihundert Jahren zur Bach’schen Welt und seiner Frömmigkeit ist hier am deutlichsten. Aber man muss sie als historische Zitate nehmen und entsprechend kontextualisieren, um dann auf die verborgene Botschaft vorzustossen. Und die ist zeitlos. Sie stellt jeden Hörer, jede Hörerin, fordert zur Stellungnahme, ganz persönlich. Ich bin gemeint: Da ist kein Ton, der dich nicht trifft, du musst dein Leben ändern …

III.

Drei Lese-Erfahrungen liessen mich Bach und andere Orgelmusikstücke anders hören. Davon will ich kurz erzählen. Die eine hat mit der Lektüre eines Romans zu tun. Er handelt von einem Jungen, der in eine schwere Lebenskrise geraten ist. In der heilen Welt seiner bürgerlichen Familie war er aufgewachsen, in einer klaren Ordnung von Erlaubt und Verboten, Sünde und Tugend, Gut und Böse. Da kommt es zum Bruch, weil der Junge bei einer Lüge über eine angebliche Heldentat erwischt wird, die er nicht zugeben kann, die ihn jetzt aber in gnadenlose Abhängigkeit von einem bösartigen Erpresser bringt, einem Schüler aus derselben Klasse. Eine Lügenspirale setzt sich in Gang, wird zur Falle. Seine gut geordnete Welt? Auf einmal ist sie zerbrochen. Was vorher undenkbar war, ist passiert: Der Junge ist in die Welt der Sünde, der Schuld und des Bösen geraten. Kennengelernt hat er jetzt das Dunkle, Unheimliche, Triebhafte, ja Teuflische im Leben.

Er wäre daran zerbrochen, hätte ihm nicht ein anderer Mitschüler einen Weg gewiesen, wie er das Negative nicht länger leugnen und abspalten muss, sondern integrieren kann – als eine Möglichkeit zu einem erwachsenen Menschsein. Er bietet ihm ein radikal anderes Gottessymbol. Nicht das dualistische der bürgerlichen Moral (Gut gegen Böse), sondern eines, das ihm erlaubt, das Gespaltene zu überwinden durch Annahme auch des Dunklen in sich. Auf einmal geben ihm seine Träume entsprechende Signale: Bilder von «Wonne und Grauen» waren aufgestiegen, von «Mann und Weib gemischt, Heiligstes und Grässliches ineinander verflochten, tiefe Schuld durch zarteste Unschuld zuckend» (3, S. 308). Die Rede ist von einem Schlüsselroman Hermann Hesses aus seiner Krisenzeit während des Ersten Weltkriegs: «Demian», 1919 erschienen.

Das Buch ist mir in unserem Zusammenhang wichtig, weil Hesse seinen jungen Helden, Sinclair, nach der Entdeckung des neuen Gottessymbols bei einer kleinen Vorstadtkirche Halt machen lässt. Denn aus dieser Kirche tönt bis auf die Gasse hinaus Musik aus einer Orgel, darunter Stücke von Johann Sebastian Bach und Buxtehude, gespielt von einem Mann namens Pistorius, wie der Junge später erfährt. Dieser aber spielt nicht irgendwie, sondern «wunderlich»; das fällt dem Lauscher sofort auf. Er spielt «mit einem eigentümlichen, höchst persönlichen Ausdruck von Willen und Beharrlichkeit». Sinclair hat das Gefühl: der Mann wisse in dieser Musik einen Schatz verschlossen, und er werbe und poche und mühe sich «um diesen Schatz wie um sein Leben». (3, S. 310f.) Ja, alles, was dieser Mann in der Einsamkeit der kleinen Kirche, in Zwiesprache allein mit der Orgel, spielt, alles, so kommt es dem Hörer vor, ist ganz und gar «gläubig», will sagen: «hingegeben und fromm, aber nicht fromm wie die Kirchgänger und Pastoren, sondern fromm wie die Pilger und Bettler im Mittelalter, fromm mit rücksichtsloser Hingabe an ein Weltgefühl, das über allen Bekenntnissen» steht. Und dieses Orgelspiel, ob Bach oder andere, erzeugt alles zugleich: «Sehnsucht, innigstes Ergreifen der Welt und wildestes Sichwiederscheiden von ihr, brennendes Lauschen auf die eigene dunkle Seele, Rausch der Hingabe und tiefe Neugierde auf das Wunderbare.» (3, S. 311)

Mit einem Wort: Hesses Held erlebt in der Orgelmusik, was er vorher in Traumbildern gesehen hatte, den Zusammenklang der Gegensätze, die Aufhebung der Spaltung, die Fähigkeit zur Integration des Dunklen und des Hellen, des Abgründigen und Geborgenen. Diese Musik ist Schrei und Stille, Trotz und Trost, Protest und Ergebung, aufwühlender Sturm und leise Besänftigung, zuckende Unruhe und stille Meditation. Und immer alles zugleich. Polarität statt Spaltung, Komplementarität statt Konflikt. Eine «unbedingte Musik», bei der man – so wörtlich – «spürt, dass da ein Mensch an Himmel und Hölle rüttelt». Und wir verstehen jetzt auch, warum Hesse den jungen Sinclair bei einer Begegnung mit Pistorius sagen lassen kann: «Die Musik ist mir sehr lieb, ich glaube, weil sie so wenig moralisch ist. Alles andere ist moralisch, und ich suche etwas, was nicht so ist. Ich habe unter dem Moralischen immer bloss gelitten.» (3, S. 312)

Seit ich diese Szene in Hesses «Demian» kenne, höre ich auch die Bach’sche Orgelmusik anders, schärfer, genauer, wacher. Wie Hesses Sinclair erlebe auch ich, dass mit dieser Tonsprache, einem Sehnsuchts-Gebet gleich, ein Mensch in der Tat «an Himmel und Hölle» zu rütteln scheint. Ja, auch an den Pforten der Hölle. Wie könnte es eine Ruhe in Gott geben um den Preis der Höllenverdrängung? Erlösung für einen selbst, solange andere den Qualen der Hölle ausgesetzt wären? Der Himmel ist kein Refugium für Rücksichtslose. Auch ich erlebe, dass diese Musik mir ungeschminkt und ohne moralische Zensur vom Leben mit seinen Ambivalenzen und Zwiespältigkeiten erzählt: vom Niedrigsten und vom Höchsten, von Dunkelsten und vom Hellsten, vom Abgrund der Welt und der Sehnsucht nach Harmonie. Aber niemals als Betäubung oder Aufpeitschung von Emotionen. Alles so, dass es noch Form bleibt, Gesetz, gebannt und gestaltet zugleich.

Diese Musik – das lerne ich von Hesses Geschichte – macht mich frei von Denkschemata und fixen moralischen Urteilen. Stattdessen lehrt sie mich zuhören und zu integrieren, was ich gerne abspalte und verdränge. Aufhebung der Erdenschwere als Gewinn innerer Freiheit, als Ahnung einer Existenz unendlicher Räume, die meine Kleingeistigkeit und Kleingläubigkeit unterläuft. Als krummes Holz betritt man den Klangraum dieser Welt und geht mit aufrechtem Gang davon.

IV.

Aber nicht nur im moralischen, sondern auch im politisch-gesellschaftlichen Sinn. Diese Einsicht verdanke ich einem anderen literarischen Text. Ich finde ihn in dem Prosabändchen, das seinen Autor Reiner Kunze mit einem Schlag einer literarischen Öffentlichkeit in Deutschland bekannt macht, als es 1976 im Westen erscheint und die DDR diesen Poeten daraufhin derart unter Druck setzt, dass er 1977 diesen Staat verlässt. Der Titel des Buches «Die wunderbaren Jahre» ist dementsprechend von bitterer Ironie, denn es geht in den kurzen Texten vor allem um die Beschreibung von Schikanen im Alltag von Menschen, um Bevormundungen durch Behörden, um Überwachung und Kontrolle, um Funktionärsgebaren. Beschrieben wird ein Klima aus Repression und Angst, nachdem alle Unangepasstheit von der totalitär herrschenden Partei als Bedrohung empfunden und auf Abweichen von der staatlich verordneten Linie mit Druck, ja mit Verbot und Gewalt reagiert wird. Insbesondere alles, was in den Bereich von Religion und Kirche fällt, zieht das Misstrauen der Herrschenden auf sich.

So auch das Orgelkonzert in einer örtlichen Kirche, das immer Mittwochabends stattfindet. Obwohl die Schulbehörde den Besuch unterbinden will, Lehrer die Schüler noch am Kirchenportal abzufangen versuchen, Eltern Druck ausüben, reichen bald die Sitzplätze in der Kirche nicht mehr aus. Warum? Warum kommen gerade auch junge Menschen zu dieser Musik in diesen Raum?

«Hier müssen sie nicht sagen, was sie denken», so beginnt das kleine Kapitel «Orgelkonzert (Toccata und Fuge)». «Hier umfängt sie das Nichtalltägliche, und sie müssen mit keinem Kompromiss dafür zahlen; nicht einmal mit dem Ablegen der Jeans. Hier ist der Ruhepunkt der Woche. Sie sind sich einig im Hiersein. Hier herrscht die Orgel.» (S. 76) Und dann folgt eine Vision von wahrhaft erschütterndem Ausmass: Orgelherrschaft – freigesetzt! Was wäre, wenn. Was wäre, wenn auf einmal alle Orgeln, aus allen Himmelsrichtungen, unter welchem Dach auch immer, auch die von Bach gespielten, plötzlich zu tönen begännen und die Lügen, von denen die Luft schon derart gesättigt ist, dass der um Ehrlichkeit Bemühte kaum noch atmen kann, hinwegfegten, hinwegdröhnten all den Terror im Geiste ... Wenigstens ein einziges Mal, wenigstens für einen Mittwochabend. (S. 80)

Bedenken wir noch einmal die Schlüsselworte: ein Orgelkonzert als «Ruhepunkt der Woche». Menschen werden einig im Hiersein. Die Musik kann reinigen, indem sie «Lügen hinwegfegt», den «Terror im Geiste» hinwegdröhnt. Das Orgelkonzert in einer Kirche? Im Kontext eines politisch totalitären Systems ist es ein Raum der Freiheit, weil er die Menschen, solange sie zuhören, nicht zwingt, verordnete Gedanken zu denken, verordnete Rituale abzuspulen und zu Claqueuren eines Systems zu werden, das sie innerlich ablehnen. Das Orgelkonzert ist die nichttotalisierte Leerstelle in dieser verzweckten, durchkontrollierten, überwachten Gesellschaft. Die Musik Bachs? Sie wird zum Ausdrucks- und Rückzugsraum unverwalteter, unverzweckter Menschlichkeit.

Ich selber habe glücklicherweise nie unter DDR-Verhältnissen leben müssen, aber das verfügte, genormte, angepasste und so oft fremdbestimmte Leben kenne auch ich. Das Leben unter einer anderen Art von Druck als das politische: das Funktionieren- und Leisten-Müssen, die Anerkennung über Leistungsnachweise. Du bist etwas, weil du etwas geleistet hast. Im regulierten Leben aber ist das Hören-Dürfen der Bach’schen Orgelmusik die Kontrasterfahrung schlechthin: eine Erfahrung des Unverfügten, Unverzweckten, Unkontrollierten. Hier sagt niemand «Du musst». Du bist um deiner selbst willen hier. Und die Bach’sche Musik ist um ihrer selbst willen schön. Kostbare Momente der Selbstentlastung und Selbstbesinnung setzt sie frei. Sie erlaubt das Hier-Sein, absichtslos, ungeplant, unverzweckt. Diese Musik zwingt mich zu nichts und drängt sich nicht auf. Sie verlangt keine Voraussetzungen und keine Zustimmung. Sie lädt ein und öffnet die Sinne ohne alles Ziel, ohne Zweck, ohne Plan, eben: ohne ein «Du musst». Ein Ruhepunkt der Woche könnte sie sein in einem oft hektischen, verfügten, verplanten Leben.

V.

Das alles hat auch der österreichische Schriftsteller Robert Schneider gewusst, als er seinen Roman «Schlafes Bruder» schrieb. 1993 erstmals erschienen, wird der Erstling des Autors weltbekannt, nicht zuletzt auch durch eine Verfilmung von Joseph Vilsmaier 1995. Im Zentrum ein aus einfachsten bäuerlichen Verhältnissen der österreichischen Alpen Anfang des 19. Jahrhunderts stammender und dort aufgewachsener Junge, Elias, der sich, scheinbar zurückgeblieben und wie ein Aussenseiter behandelt, als genialer Musiker und dann auch als exzeptioneller Orgelspieler entpuppt. Bei einem Wettbewerb, zu dem man ihn endlich zugelassen hatte, findet er zu dem Bach’schen Choral «Komm o Tod, du Schlafes Bruder» eine Tonsprache wie kein Meister vor und nach ihm. Diese so gespielte Musik vermochte, wie es wörtlich heisst, «den Menschen bis auf das Innerste seiner Seele zu erschüttern».

Solche Töne hatte niemand von den Zuhörern je vernommen, und der Erzähler fügt hinzu: «Er spielte nun schon länger, denn eine halbe Stunde und ein Ende war nicht abzusehen. Aber aus dem breiten, dunklen Chaos regten sich allmählich versöhnlichere Stimmen. Den Melodien folgten andere Melodien, duftig und weich wie das im Frühlingswind wogende Gras. Und diesen Melodien folgten wiederum neue Melodien … folgte die Melodie des Chorals. Der Choral aber war der Tod. So entstand ein Reigen, ein ephemeres Auf und Nieder immer neuer musikalischer Gedanken. Die Melodie wechselte in einen ungeraden Takt, fiel zurück und wechselte abermals. An der Leichtfüssigkeit der immer neu hinzutretenden Stimmen konnte man erahnen, dass Elias nicht mehr von dieser Welt erzählte. Der Mensch war aus dem Chaos aufgestanden, das Gewicht der Erde zerrte ihn nicht länger nieder.» (S. 175f.)

VI.

Seit ich diese literarischen Szenen kenne, höre ich Musik anders, schärfer, genauer, wacher. Wie Hesses, Kunzes und Schneiders Helden erlebe auch ich, dass mit dieser Tonsprache, einem Sehnsuchts-Gebet gleich, ein Mensch in der Tat «an Himmel und Hölle zu rütteln» scheint. Und ich erlebe, dass diese Musik mir ungeschminkt und ohne moralische Zensur vom Leben mit seinen Ambivalenzen und Zwiespältigkeiten erzählt: vom Niedrigsten und vom Höchsten, von Dunkelsten und vom Hellsten, vom Abgrund der Welt und der Sehnsucht nach Harmonie. Aber niemals als Betäubung oder Aufpeitschung von Emotionen. Alles so, dass es noch Form bleibt, Gesetz, gebannt und gestaltet zugleich. Entsprechend kann man im Hören von Musik frei von Denkschemata werden, von fixen Urteilen. Stattdessen lehrt sie zu integrieren, was ich gerne abspalte und verdränge. Aufhebung der Erdenschwere als Gewinn innerer Freiheit, als Ahnung einer Existenz unendlicher Räume, die meine Kleingeistigkeit und Kleingläubigkeit unterläuft. In der Tat: Als krummes Holz betritt man den Weltraum der Klänge und geht mit aufrechtem Gang davon.

So erlebe ich gerade durch die sinnliche Wahrnehmung der Ton-Kunst Johann Sebastian Bachs Möglichkeiten des Nachdenkens über das Banale und Alltägliche hinaus. Unterbrechungserfahrungen werden möglich, ich sagte es. Für mich sind sie Erfahrungen des Transzendierens, das heisst: der Selbstüberschreitung des eigenen oft engen und begrenzten Horizonts. Und diese Erfahrungen der Selbstüberschreitung lassen mich in bestimmten verdichteten Momenten auch etwas ahnen vom Geheimnis des Transzendenten, von dem ich mich umgeben fühle und dessen «Code» ich zu entschlüsseln suche.

Der Lektüre des Buches «Die Matthäuspassion» des Philosophen Hans Blumenberg verdanke ich den Hinweis auf ein schon 1937 erschienenes Aphorismen-Bändchen des rumänischen Schriftstellers Emile Michel Cioran, das 1988 in deutscher Übersetzung unter dem Titel «Von Tränen und von Heiligen» erschien. Cioran, ein scharfzüngiger Religionskritiker, den Biographen als «radikalen Skeptiker» und «Ketzer» beschreiben, reflektiert an einer Stelle seines Büchleins ganz überraschend Erfahrungen mit der Musik Johann Sebastian Bachs, eine Stelle, die mich angerührt und nachdenklich gemacht hat. «Wenn wir Bach hören», schreibt Cioran, «sehen wir Gott aufkeimen, sein Werk ist gottheitgebärend. Nach einem Oratorium, einer Kantate oder einer Passion muss er existierten. Sonst wäre das ganze Werk des Kantors eine zerreissende Illusion ... Wenn man bedenkt, dass so viele Theologen und Philosophen Tage und Nächte damit verloren haben, nach Gottesbeweisen zu suchen, und den eigentlichen vergessen haben ...» (S. 41f.)

Ich selber formuliere vorsichtiger. Ich spreche nicht von Gotteserfahrungen durch Kunst, schon gar nicht von Gottesbeweisen, auch nicht ironisch wie Cioran. Das wäre anmassend. Ich spreche vom «Ahnen» einer Geheimnishaftigkeit meines Lebens, von Spuren der Transzendenz, von freigesetzter Sehnsucht nach Erfüllung und Vollendung. Ich halte mich an ein Wort von Hermann Hesse zur Bach’schen Musik. Ich finde es in einem Brief, der vierzehn Jahre nach dem «Demian» geschrieben wurde. Auf den Bach’schen Choral «Ach bleib bei uns» Bezug nehmend schreibt Hesse im Juli 1933: «Es ist jetzt schwer zu leben, sehr schwer, aber diese Musik ist ewig, wir haben teil an ihr, sie geht durch uns durch, und wenn die übrige Luft auf Erden kaum mehr zu atmen ist und so beengend nach Zyankali schmeckt, dann zieht unsere Seele immer noch aus Sachen wie diesem Choral ihre liebe Nahrung. Diese Musik ist Tao. Auch das nämlich ist eine der 1000 Erscheinungsformen des Tao: die vollkommene Form, die den ‹Inhalt› verschluckt und aufgelöst hat und in sich selber schwebend nur noch atmet und schön ist. Man wünscht ... so sich hinzugeben und dem Schweren zu entschweben und mit dem Einen eins zu werden.» (in: Hermann Hesse, Musik, Hg. V. Michels, Frankfurt/M. 1986, S. 158)

VII.

Viele Menschen, wo immer sie leben, von welcher Kultur oder Religion sie geprägt sind, werden ähnliche Erfahrungen gemacht haben, die ich gewissermassen stellvertretend, Wortkünstler heranziehend, beschrieben habe. Sie spüren, dass man die Liebe zur Musik nicht nur individuell oder durch die Gemeinschaft der Chöre pflegen, sondern auch in den Dienst des Friedens zwischen den Nationen und der Verständigung zwischen den Kulturen und Religionen stellen kann, dass Musik also eine kulturtranszendierende und gewalteindämmende Kraft besitzt, und dass die friedenszerstörenden Kräfte immer wieder auf die domestizierende Macht der Töne treffen.

Man hat zu Recht davon gesprochen, dass das Spezifische der Musik gerade in der Fähigkeit besteht, eine «„globale Gemeinschaft der Nationen» zu konstituieren und immer wieder neu zu behaupten allen Rückschlägen in der internationalen Politik zum Trotz. Wie auch anders? Reine Musik ist bekanntlich eine Sprache ohne Sprache, Ton-Kunst ohne Wortkunst, in der Tonsetzung genau kalkuliert, aber letztlich unsagbar, das Hirn herausfordernd und zugleich das Herz berührend, rational und emotional zugleich, von Bedeutungen schwer, aber in Worten nicht zu fassen. Das macht sie unverwechselbar, und genau das ist ihre Chance. Denn die Tonsprache der Musik ist von allen Menschen erlern- und erlebbar, welche Muttersprache auch immer sie sprechen, aus welcher Kultur auch immer sie kommen, zu welchem Gott auch immer sie beten. Das hat sie mit der Mathematik gemeinsam. Worte trennen oft, Musik verbindet. Wort-Sprache baut eher Barrieren, die Ton-Sprache Brücken.

Die Kraft der Musik vermag den reinen homo aestheticus in einen homo spiritualis zu verwandeln, der Verantwortung für diese Welt in ihrer Fragilität übernimmt. Bitter nötig in einer Zeit wie der unsrigen, in der die Bindungen an die traditionellen Kirchen bei Ungezählten erodiert sind und die Fratzen des Krieges sich wieder erhoben haben. Aber die Kriegstreiber kommen und gehen. Sie grosse Musik bleibt. Die Appenzeller Bach-Tage und die Arbeit der Schweizer Bach-Stiftung sind Gegenzeichen einer nie zerstörbaren Hoffnung und einer nicht versiegenden Freude.

Prof. Dr. Karl-Josef Kuschel lehrte von 1995 bis 2013 Theologie der Kultur und des interreligiösen Dialogs an der Fakultät für Kath. Theologie der Universität Tübingen. Zugleich war er Co-Direktor des Instituts für ökumenische und interreligiöse Forschung der Universität Tübingen. Lange Jahre war er Mitglied der Jury zur Verleihung des jährlichen Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Gegenwärtig ist er im Kuratorium der Stiftung Weltethos und Präsident der Internationalen Hermann Hesse Gesellschaft.